Gesellschaft

Charlie Hebdo in Berlin?

In meiner Lieblingszeitung lese ich am 3. 3. einen Bericht von Patrick Bahners über das, was Emilia von Senger in den letzten Wochen zugestoßen ist.

Die junge Frau hat in Berlin einen Buchladen eröffnet, den sie „She said“ nennt, inspiriert von einem Buch „‘Sagt sie‘. 17 Erzählungen über Sex und Macht“, ausschließlich von Frauen verfasst, von Frauen und queeren Personen, also von Autorinnen und Autor*innen, die von heterosexuellen Normen abweichen. „She said“ soll ein „Safe Space“ (man könnte auch Sicherer Ort sagen) sein, wie die Geschäftsfrau erkennen lässt, „für alle, die ihre Existenz in der Gesellschaft als unsicher erleben.“

Eine Buchhandlung als Inklusionsplattform, in bester Absicht ins Leben gerufen!

Zustimmung war zu erwarten, natürlich auch Opposition, vielleicht sogar Gewalt, auch extreme Gewalt war nicht auszuschließen. Aber was Emilia von Senger, die selbst der LGBT*IQ-Community angehört[1], erlebte, war nicht physische, sie war psychischer Gewalt ausgesetzt von Leuten, von denen sie es gerade nicht erwarten konnte.

Von Moshtari Hilal und Sinthujan Varatharjah, zwei auch in Berlin lebenden Künstlern, die sich zu einem wöchentlichen Videodialog zusammengefunden hatten. (Vataratharjah legt Wert darauf, und das ist wichtig festzuhalten, weder mit einem männlichen noch mit einem weiblichen Pronomen bezeichnet zu werden.)

Das zweistündige Video unterbreitet den Vorschlag, von den in Deutschland geborenen Deutschen als ‚Menschen mit Nazihintergrund‘ beziehungsweise ‚Genozidhintergrund‘ zu sprechen.“ Denn bei den in Deutschland geborenen Deutschen kann „früher oder später ein Erblasser aus der Zeit des Nationalsozialismus angenommen werden. . . Das ist in der Sicht (der beiden Künstler) der Schlüssel zur Machtverteilung in der deutschen Gesellschaft, das offene Familiengeheimnis des Kollektivs der Nichtmigranten (sic!) und auch das Geheimnis der deutschen Kultur, die diese Machtverteilung zur Darstellung bringt und kaschiert“, wie Patrick Bahners referiert.

Pech für Emilia von Senger, dass sie aus einer oberfränkischen Adelsfamilie stammt, dass ihr „Urgroßvater General der Wehrmacht, ihr Großvater ebenfalls Offizier im Weltkrieg und General der Bundeswehr“ war, dass sie geerbt hat.

Die Süddeutsche Zeitung, keineswegs verdächtig, zu weit rechts zu stehen, fasst zusammen: „Die Besitzerin einer queer-feministischen Buchhandlung gerät in Erklärungsnot, weil ihre Vorfahren Nazis waren.“

Was keineswegs ausgemacht ist, wie der Militärhistoriker Sönke Neitzel gegenüber der FAZ feststellt. „‘Aber beide operierten im System der Wehrmacht, das an sich schon verbrecherisch war.‘“ (Seit den beiden Wehrmachts-Ausstellungen 1995/1999 und 2001/2004  meint man zu wissen, dass die gesamte Wehrmacht verbrecherisch war!)

Wer sind die beiden Künstler? Wikipedia weiß das.

Sinthujans (* 1984 in Jaffa auf Sri Lanka) Familie floh in den 80er-Jahren vor dem Bürgerkrieg in Sri Lanka nach Deutschland, man ließ sich in Oberfranken nieder. Er studierte an verschiedenen Universitäten in Deutschland und England Philosophie und evangelische  Theologie, wandte sich dem Schreiben zu, erhielt ungezählte Stipendien, Förderpreise und Auszeichnungen, als letzte in der langen Auflistung wird das Studienstipendium des Studienwerkes der Heinrich-Böll-Stiftung erwähnt. Die Literaturkritik, auch Ulla Hahn, eine bedeutende Repräsentantin der deutschen Gegenwartsliteratur, findet lobende Worte für Sinthujan, den Deutschen.

Auch Moshtari Hilal, Zeichnerin, Fotografin und Videokünstlerin ist Deutsche. Sie ist, wie es in einem anderen Nachschlagewerk heißt, 1993 in Kabul geboren, im Alter von zwei Jahren nach Deutschland „emigriert“, fühlt sich ihrer Geburtsstadt „stets verbunden.“

Beide Immigranten sind als Kinder Deutsche geworden, jedenfalls Deutsche geblieben, haben ihre Chancen genutzt, ihren Weg gemacht, werden von der Gesellschaft akzeptiert, gelobt, hoch-gelobt.

Und nun bezeichnen sie die, die ihnen das ermöglicht haben, also die Gesamtheit der Deutschen, vorwiegend aber (schon der schieren Zahl nach) die in Deutschland geborenen Deutschen[2], als Erben der Nationalsozialisten. Die Nationalsozialisten würden heute, im Jahre 2021, die Machtverteilung in Deutschland bestimmen!

„Was maßen Sie sich an? How dare you! Wie könnt Ihr es wagen?! Wie kann man das Land, das Schutz gewährt, einen aufgenommen hat, derart an den Pranger stellen, in den Schmutz ziehen?“, will ich sie fragen.  

Die in Deutschland geborenen Deutschen werden stigmatisiert, mit einer Erbsünde behaftet. Religionsstifter nehmen sich das Recht Erbsünden aufzuerlegen. Und jetzt zwei Künstler als Nutznießer der Liberalität in unserem Land.

Ich fühle mich beleidigt!

Ich bin ohne Migrationshintergrund. Mein Vater wurde in Weltkrieg II zwangsverpflichtet wie Millionen andere. Er war kein Nazi, zu dem er jetzt gemacht wird.

Die Position der beiden Künstler ist nicht nur anmaßend, sie reicht an das Verbrechen heran, den Holocaust zu leugnen.

Es gibt Respekt, Dankbarkeit, Schicklichkeit, es gibt Moral, es gibt Kants Kategorischen Imperativ:

Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.

Hat Sinthujan Varatharjah, der ehemalige Theologiestudent, davon je gehört?

Man darf nicht alles tun, was man meint zu dürfen/tun zu können. Aus Charlie Hebdo (Opfer einer Mord-Attacke, der Schmähungen vorausgegangen waren) habe ich, wahrlich kein Fan des Islam, auch gelernt, dass die Meinungsfreiheit  nicht grenzenlos ist.

 

Der Beitrag fußt auf einem Artikel von Patrick Bahners, Genozid durch Gentrifizierung. Zwei Künstler greifen eine Berliner Buchhandlung an, um alle Deutschen zu treffen. In: FAZ vom 3. 3. 2021

Dr. Axel Glöggler

 

[1] LGBT*IQ: Abkürzung für Lesbians, Gays, Bisexuals, Trans*, Inter&Queers. „Laut einer Studie des Marktforschungsinstituts Dalia aus dem Jahre 2016 beträgt der LGBT-Anteil in Deutschland 7,4 Prozent – der höchste in der Europäischen Union“. Nach Dorothee Pfaffel, in Augsburger Allgemeine vom 2. 3. 2021, S. 10.

[2] Nicht-Migrant weigere ich mich zu sagen. Ich bin Deutscher, nicht Nicht-Migrant.

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