Politik

Der weiße Mann hat an allem Schuld

Wir zählen zweiundachtzig Millionen Menschen in Deutschland. Zweiundachtzig Millionen Individuen. Das aber heißt nicht, dass es zweiundachtzig Millionen Identitäten braucht.

Danach aber sieht es derzeit aus. Die Identitäts-Denke breitet sich pandemisch aus.

Eine führende Politikerin der Grünen wird gescholten, weil sie als  Jugendliche am liebsten „Indianerhäuptling“ geworden wäre.

Apotheken oder Gaststätten „Zum Mohren“ sollen ihren Namen ändern, aus dem Wappen von Coburg soll eben der getilgt werden.

Eine Schriftstellerin muss nach Protesten darauf verzichten, ein Gedicht einer anderen zu übersetzen. Ihr „Vergehen“? Sie ist eine „Weiße“, das zu übersetzende Gedicht von einer Farbigen geschrieben.

Die Frage wird aufgeworfen, ob westdeutsche Journalisten über Ostdeutsche schreiben dürfen.

Eine Philosophieprofessorin ist Objekt eines shit storms, weil sie sich gender-kritisch äußert.

Ein Altertumswissenschaftler wird gerügt, weil er so, wie es seine Kollegen seit Zeiten taten, seine Erkenntnisse aus „westlicher Sicht“ verbreite; ein Ethnologe, weil er die „kolonialistischen Prozesse“ missachte.

Ein britisches Marktforschungsinstitut hat in einer Befragung festgestellt, dass nur 54 Prozent sich ausschließlich zum anderen Geschlecht hingezogen fühlen.[1] Joanne K. Rowling wird der Transphobie beschuldigt.

Cecil Rhodes‘ Bronzestatue wird geschleift.

An den Universitäten gibt es Denk- und Sprechverbote. Der soziale, ethnische, ja der ideologische Standort soll die Lehrinhalte bestimmen. Das fundamentale Postulat von Max Weber nach Wertfreiheit der Wissenschaft (keineswegs gleichbedeutend mit der Forderung, der Wissenschaftler dürfe keine eigene Meinung haben, oder normative Aussagen treffen) wird auf den Kopf gestellt.

Jeden Tag meldet sich eine Minorität zu Wort. Und jede will das Sagen haben. Minoritäten wollen über die Majorität herrschen. Dabei haben wir schon jetzt so viele Kulturen (oder sollen wir sagen: Sub-Kulturen?) in Deutschland, dass, hätte jede einen Stern in unserer Flagge, ein Sternenbanner ungeahnten Ausmaßes entstünde.

Neo-Feminismus, Anti-Rassismus und De-Kolonialismus beherrschen das Feld. Nicht selten sind genderbewegte Studentinnen aus den Hipster-Vierteln mit dem Werdegang Kreißsaal – Hörsaal - Plenarsaal die Protagonistinnen.

Unter Generalverdacht steht der heterosexuelle Weiße Mann, der Schurke, der für alles Übel dieser Welt verantwortlich ist. Allein schon durch seine Anatomie ist der Mann zur Rohheit verdammt. Er ist die Negativgestalt der Weltgeschichte. Und der Penis seine Massenvernichtungswaffe.

Er steht im Zentrum der Cancel Culture. Als Missliebiger wird er ausgegrenzt. Wagt er es, seine Stimme zu erheben, wird er in die Ecke zu den radikalen Kräften gestellt. (Natürlich ist er glatzköpfig und trägt Springerstiefel.)

Der Wunsch nach Gleichheit ist unumstößlich. Alle sollen gleich sein. Gerade in den westlichen Demokratien, wo Frauen- oder Minderheitsrechte am besten geschützt werden, wird am lautesten gegen Verstöße protestiert. Der Wunsch nach Gleichheit ist umso unersättlicher, je größer die Gleichheit ist (Alexis de Tocqueville).[2]

Es tobt ein neuer Klassenkampf.[3]

Wolfgang Thierse (SPD), der ehemalige Präsident des Deutschen Bundestages, klagt und fordert: der Zusammenhalt der Nation ist wichtiger als die Befindlichkeit einzelner gesellschaftlicher Gruppen und Minoritäten. Qualität der Argumente sollen den Ausschlag geben, nicht Geschlecht, Hautfarbe oder Religion. – Wird er gehört?

Seien wir zuversichtlich.

Nicht  von Beginn an enthüllen die Götter den Sterblichen alles. Aber im Laufe der Zeit finden wir suchend das Bess’re (Karl Popper, nach: Xenophanes)[4]

 

 

[1] Frankfurter Allgemeine, Magazin, April 2021, S. 42

[2] Pascal Brucker in NZZ vom 22. 3. 2021

[3] Eric Gujer in NZZ vom 12. 3. 2021

[4] Karl L. Popper, Die Logik der Sozialwissenschaften, in: Th. W. Adorno u. a. Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, 2. Auflage 1970, Neuwied und Berlin, S. 123

 

 

 

Dr. Axel Glöggler

https://twitter.com/DrAxelGloeggler

 

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