Politik

Religion und Wirtschaft. Folge Sechs

China - das Land, in dem alles anders ist

 

Machen wir einen Sprung ins Land der Mitte, in das bevölkerungsreichste Land der Erde. Dort treffen wir in manchem auf das Spiegelbild unserer westlichen Zivilisation: Chinesen schreiben in Bild- statt in Lautzeichen, von rechts nach links und vertikal statt horizontal; ihre Bücher hören da auf, wo unsere anfangen; sie tragen weiß als Trauerfarbe anstatt schwarz; unterteilen den Tag in zwölf statt vierundzwanzig Stunden;  setzen den Ehrengast auf die linke statt auf die rechte  Seite; ergreifen zur Begrüßung die eigene Hand statt die Hand des anderen; der chinesische Kompass zeigt nach Süden. Und: Chinesen leben nicht auf Erden, sondern unter dem Himmel.

Seit dem Sturz des Kaisers (1912), Repräsentant  der zweiundzwanzigsten (!) Dynastie, ist aus dem schlafenden Riese ein drohender Riese geworden. Warlords, Kuomintang, Langer Marsch, der 1949 mit der Gründung der Volksrepublik China endete, Großer Sprung nach vorne, Vierer-Bande . . . Mao ist die beherrschende Figur Chinas im 20 Jahrhundert. Nicht aber er, der große Schlächter, initiierte den märchenhaften Aufschwung seines Landes (inzwischen mit dem zweithöchsten Bruttosozialprodukt der Welt) , das heute die Welt das Fürchten lehrt. Nein, es war Deng Xiaoping, der große Pragmatiker, der ihn durch Beschlüsse des dritten Plenums des Elften Zentralkomitees der KP Chinas einleitete. Er schaffte damit die Wiedergeburt seines Landes, das bis Ende des 19. Jahrhunderts weltabgewandt, weil in sich gekehrt war. Anders als sein Vorgänger hatte er den Westen durch Besuche im jugendlichen Alter kennengelernt und mit seiner Forderung: „Werdet reich!“ auf wirtschaftlichem  Gebiet eine Revolution ausgelöst. Kapitalismus war fortan keine Sünde mehr. „Egal, welche Farbe die Katze hat, Hauptsache sie fängt Mäuse!“, seine Rechtfertigung.

Mao hat gleichwohl nach wie vor einen gott-ähnlichen Status, was an der schnöden Tatsache abzulesen ist, dass sein Konterfei alle Banknoten ziert. Seine Rote Bibel ist Vademecum aller Revolutionsführer in West und Ost.

In der christlichen Bibel lesen etwa zwanzig Millionen Menschen, einhundert bis zweihundert Millionen werden dem Buddhismus zugerechnet.

Konfuzius (551 – 479 v. Chr.) ist uns vertraut, dessen Lehre von den Fünf menschlichen Beziehungen ebenso wie der Daoismus das Verhalten mancher Chinesen noch heute bestimmt.

In seinem Buch vom Weg und der Tugend geht es Laotse (480 bis 390 v. Chr.) „ausschließlich um das Dao, jenes kosmische Prinzip des Werdens und Vergehens, das in allem wirkt, das alles erzeugt und erhält und das rational nicht zu erklären        ist . . . Er empfiehlt dem Menschen, sich diesem Geschehen unterzuordnen und nicht etwa aktiv einzugreifen oder sich ihm entgegenzustemmen. Durch ‚Nichthandeln‘ und stilles Betrachten der Natur findet der Mensch . . . seine Erfüllung in der Welt.“

Der Daoismus kann also keine Religion sein, die für Handeln, gar unternehmerisches, Ansporn ist. Durch die  Wissensbegierde und Aufgeschlossenheit des Westens hat er aber vielfach auch außerhalb des Reiches der Mitte Aufnahme gefunden, zum Beispiel in seiner Ausprägung des feng-shui („Wind und Wasser“), einer Form der Geomantik, die starken Einfluss auf Stadtplanung, Hausarchitektur und Innenraumgestaltung hat, in West und Ost.

Der Konfuzianismus wird im Westen oft als Religion angesehen. Falsch. Denn der Meister hat sich zu genuin religiösen Fragen nie geäußert. „Seine Lehre ist rein philosophisch-politisch und ist als Moral-und Sittenlehre anzusehen.“ In späteren Jahren des Kaiserreiches, unter dem Kaiser Wu (reg. 140 bis 86 v. Chr.), wurde seine Lehre Staatsphilosophie. „Der Eintritt in die Beamtenlaufbahn war nur möglich, wenn der Prüfungskandidat die Grundlehren des Konfuzianismus beherrschte.“

Man liest, dass die Menschen sich die Versprechungen dieser  Quasi-Religionen zunutze machen, den Konfuzianismus, wenn es ihnen gut, den Daoismus, wenn es ihnen schlecht geht und den Buddhismus beim Tod.

Historiker weisen darauf hin, dass es „längst vor dem Aufkommen des Konfuzianismus, dem Daoismus, ja selbst dem Buddhismus einen eindeutig religiös begründeten  Staatskult  gab, der letztlich unabhängig von den bekannten Religionen bis zum Untergang der letzten Dynastien eingehalten wurde“ und der, das ist hinzuzufügen, agrarisch fundamentiert war[1].

Im pharaonischen Ägypten herrschte die sogenannte Maat, worunter zu verstehen ist, dass der Pharao der unwiderlegbare Interpret des (sonnen-)göttlichen Willens ist, ja die Inkarnation Gottes auf Erden.

Im Reich der Mitte herrschte Tianming. Der Herrscher war dem Volk enthoben und mit absoluter Macht ausgestattet, um sein Volk vor Feinden zu schützen und ihm Wohlfahrt zu bescheren. Er musste moralisches Vorbild sein und stand als Vermittler für die Harmonie zwischen Himmel und Erde; vor allem aber dafür, Segen für das Gedeihen der Feldfrüchte von den Göttern zu erflehen.

 

 

 

China ist alles in allem ein laizistisches Land, unter dem Einfluss der Partei auf eine Trennung zwischen Staat und Religionen bedacht, die geduldet werden, sich ihre Rechte erkämpfen müssen.

Der Glaube an den Fortschritt ist Religion und omnipräsent und ist auf die wohl-bedachten Schritte der Partei zurückzuführen, die das Land, zunächst Werkbank des Westens, über diverse Prozesse zu einer Sozialistischen Marktwirtschaft führte, wie die Parteiführung ihr Modell nennt. Staatsbetriebe und Kollektivunternehmen, unter denen man sich Genossenschaften westlichen Typus vorstellen kann, sind im Rückzug zugunsten von Privatunternehmen (einschließlich der joint ventures mit Beteiligten aus dem Ausland nach der 51-Prozent-Regel), deren Anteil an der Gesamtwertschöpfung des Landes schon über die Hälfte beträgt.     

Die ersten Jahre nach der Deng’schen Renaissance nutzte der Westen China als Verlängerte Werkbank. Mit Produktpiraterie und Dumping-Praktiken erobert man sich Märkte. Längst aber ist der Innovationsmotor in China so stark entwickelt, dass das Land mit der Zahl der Patentanmeldungen (wenn man sie auf die Bevölkerungszahl bezieht) an der Welt-Spitze steht: mit 68 720 Patentanmeldungen je eine Million Einwohner vor den USA, Japan und Deutschland; hinsichtlich der Arbeitsproduktivität aber weit hinterherhinkt (Schweden ist da die Spitze vor den USA, Japan, Großbritannien und Deutschland).

Letzteres dürfte an den nach wie vor zahlreichen Staatsunternehmen liegen, mit denen man Prestigeprojekte verfolgt, Projekte, mit denen man seinen globalen Führungsanspruch durchsetzen  will und deren hohe Verluste man in Kauf nimmt. Zombie-Unternehmen werden akzeptiert, wie das auch im Westen in Marktwirtschaften stark sozialistischer Färbung häufig geschieht, um Arbeitsplätze zu sichern.

Unbestritten ist, dass das Erstgeburtsrecht einer Vielzahl entscheidender wissenschaftlicher Entdeckungen nicht den Europäern, sondern China zusteht. Trotzdem begann um die Mitte des zweiten Jahrtausend unserer Zeitrechnung der Abstieg des Reichs der Mitte. Die Völker und Zivilisationen des Zeitalters der Entdeckungen und des Merkantilismus hatten keine oder nur geringe diplomatische und wirtschaftlichen Erfolge mit diesem in sich gekehrten Reich erzielen können. Das Selbstverständnis des chinesischen Kaiserhauses kannte keine Gleichrangigkeit ausländischer Mächte. Bis tief in das 19. Jahrhundert blieb das so. Dann aber musste China seinem Starrsinn Tribut zollen. 1895 wurde China von Japan besiegt, 1905 gab es den Boxeraufstand, der als Vorbote des Zusammenbruchs der Feudalaristokratie gewertet werden muss. Das chinesische Selbstbewusstsein zerbrach und wurde erst wieder erweckt durch Sun Yatsen (1866 bis 1925), dem Begründer der Nationalen Volkspartei (uns unter dem Namen Kuomintang bekannt), dessen Staatsphilosophie auf drei Säulen ruhte: Wiederbelebung des Staatsbewusstseins, Volks-Souveränität und Wohlstand für alle.

Mao erreichte das erste, Deng ebnete den Weg zum dritten Ziel, und die gegenwärtige Fünfte (kommunistische) Führungs-Generation der Volksrepublik um Xi Jinping als Generalsekretär  und Staatspräsident gibt vor, Volkssouveränität verwirklicht zu haben. In Wahrheit ist diese „Fünfte Kolonne“ (als die wir sie nicht bezeichnen dürfen, denn sie hat ja schon die Macht) zwar ebenso entschlossen Modernisierer, aber ebenso  autoritärer Machthaber wie ihre Vorgänger-„Dynastien“. Theokraten kann man sie, wenn man will, nennen, so  man die kommunistische Ideologie  als Religion versteht, also die wahrhaft teuflische Verbindung von geistiger und weltlicher Herrschaft, wie wir sie im Westen zwar auch erlebt, aber weitgehend überwunden haben.

Die Bevölkerung ist stolz auf die Fortschritte in nahezu allen Gebieten von Wissenschaft, Technik, Wirtschaft und Kultur (dieser Tage hat die aus China stammende Regisseurin das erste Mal einen Oscar erhalten; China ist dabei, eine Weltraumstation zu installieren) und ist bereit, Einschnitte ihrer persönlichen Freiheit und die Unterschiede in der Einkommens- und Vermögensverteilung, die so gewaltig gar nicht sind (!), unter der allmächtigen Kommunistischen Partei hinzunehmen. (Der Gini-Koeffizient [je höher desto schlechter] bzgl. der Einkommensverteilung liegt in China bei 39 in USA bei 41, in Deutschland bei 32.)

Im Westen gibt es viele, die mit dem chinesischen Modell liebäugeln, das so schnell so viele Erfolge erzielt hat, bald – gemessen am Volumen der Wertschöpfung – an der Spitze steht (in puncto Währungsreserven ist man ohnehin schon dort); das so phantasievoll in seinen Methoden und Strategien bei der Eroberung ist (Seidenstraße, großzügige Kreditvergabe an Staaten der zweiten Linie usw. ), so atemberaubende militärtechnische Fortschritte macht.

Die Chancen Europas, das ähnlich laizistisch wie die „Volks“-Republik ist, liegen darin,

  • sich auf seine vielen Stärken zu besinnen, die ihm die Aufklärung gebracht hat, vor allem die Befreiung von Personen und Institutionen, die sich von Gott eingesetzt sehen, in Permanenz regieren und behaupten, über die alleinige Wahrheit zu verfügen;
  • zu kommunizieren, Propaganda dafür zu machen, was uns Liberalismus und die Offene Gesellschaft gebracht haben.

So wird Europa keine Kolonie, kein Vasall Chinas oder eines anderen Hegemons. Vielleicht implodiert das Reich der Mitte auch, wenn es seine Kräfte überdehnt. Die Welt hat schon viele Weltreiche sterben sehen, das Römische, das Britische, das Sowjetische.

Abwarten, Freunde und Gleichgesinnte gewinnen, den Koloss einhegen!

China „kooperativ eindämmen“ heißt es von zwei Führungspersönlichkeiten des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses (EWSA)[2]. Und dem kann ich nur beipflichten.

 

  

  

 

  

  

 

 

 

[1] Zum Daoismus, Konfuzianismus und Staatskult siehe die entsprechenden Abschnitte in: Josef Guter, Lexikon zur Geschichte Chinas. Sieben Jahrtausende im Überblick, Wiesbaden, 2004

[2] Peter Clever und Christian Moos, China “kooperativ eindämmen”, in: FAZ vom 30. 4. 2021, S. 10

 

 

 

 

 

 

 

 

Dr. Axel Glöggler

https://twitter.com/DrAxelGloeggler

 

Zurück